Die Hohepriesterin, Bedeutung im Tarot von Johannes von Steinbach

Die Karte „Die Hohepriesterin“ trägt im Rider-Waite-Tarot die Zahl II. Nach der 0 des Narren (Potential) und der 1 des Magiers (bewusste Manifestation) tritt mit der 2 eine neue Dimension ein: Polarität, Spiegelung, Geheimnis. Die Zwei steht für Gegensatz und Ergänzung zugleich – Tag und Nacht, Bewusstes und Unbewusstes, Aktiv und Passiv. Die Hohepriesterin verkörpert diese Spannung nicht als Konflikt, sondern als stilles Gleichgewicht.
Symbolsprache: Eine ernste Frau sitzt zwischen zwei Säulen, schwarz (Boas) und weiß (Jachin), die Gegensätze markieren. Sie trägt ein blaues Gewand (Intuition, Wasser, Tiefe) und eine Krone mit Mondsichel – Anspielung auf Isis und die Mondgöttin. Auf ihrem Schoß ruht eine halbverdeckte Schriftrolle, die „Tora“, Sinnbild des verborgenen Wissens. Zu ihren Füßen liegt eine Mondsichel, während hinter ihr ein Schleier mit Granatäpfeln die Schwelle zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem markiert.
Sternenbach-Analyse – Die Bedeutung der Hohepriesterin im Tarot
Bildbeschau
Die Hohepriesterin sitzt unbewegt, fast entrückt. Die Säulen erinnern an den Salomonischen Tempel und stehen für die Polarität, die durchschritten werden muss, um Erkenntnis zu erlangen. Ihr blaues Gewand fließt wie Wasser zu Boden – Symbol des Unterbewussten. Der Granatapfel-Schleier verweist auf Fruchtbarkeit, aber auch auf Geheimhaltung: Wissen wird nicht einfach preisgegeben, sondern verlangt Reife. Die halbverdeckte Schriftrolle betont, dass Wissen nie vollständig sichtbar, sondern stets verhüllt ist. Der Mond zu ihren Füßen verbindet sie mit Zyklen und dem Wandel des Lebens.
Kontextualisierung
In den älteren Marseille-Decks hieß diese Figur oft „La Papesse“, eine rätselhafte weibliche Papstgestalt. Historisch knüpft dies an die Legende von Päpstin Johanna an – eine Grenzüberschreitung zwischen männlicher Macht und weiblichem Wissen. Arthur Edward Waite und Pamela Colman Smith wandelten diese Figur im Rider-Waite-Tarot in die Hohepriesterin um, stärker mit Symbolik aus Kabbala und Mystik versehen: Die Säulen Jachin und Boas stammen aus der biblischen Tempelarchitektur, der Mond und die Granatäpfel aus antiker Mythologie. Im Thoth-Tarot wird sie als „Priestess“ zum Bindeglied zwischen Malkuth (Erde) und Kether (Krone), also zwischen Endlichem und Unendlichem – eine Hüterin des unsichtbaren Wissens. Damit verkörpert sie im historischen Tarot die Schwelle vom Außen ins Innere.
Schlüsselbegriffe
- Polarität & Einheit: Gegensätze werden nicht aufgelöst, sondern in Balance gehalten.
- Bewusstes & Unbewusstes: Das Verborgene ist ebenso wirksam wie das Offensichtliche.
- Wissen & Geheimnis: Erkenntnis ist nie vollständig – jedes Wissen trägt sein Unsagbares in sich.
Die Hohepriesterin steht für das Aushalten und Erkennen von Gegensätzen, für innere Sammlung und das Vertrauen, dass Wahrheit mehrschichtig ist.
Praxis-Transfer
- Reflexionsfrage: Welche Gegensätze in deinem Leben verlangen nicht nach Entscheidung, sondern nach Balance?
- Alltagsaufgabe: Nimm dir zehn Minuten Zeit, um still zu sitzen, ohne Musik, ohne Ablenkung. Achte auf innere Bilder und Gedanken – schreibe danach drei Begriffe auf, die in dir aufgetaucht sind.
Zusammenfassung
Die Hohepriesterin im Rider-Waite-Tarot ist die Hüterin der Schwelle. Ihre Zahl 2 verweist auf Polarität, Spiegelung und Ergänzung – das Geheimnis, dass Gegensätze einander bedingen. Während der Magier aktiv handelt und gestaltet, zeigt die Hohepriesterin, dass Erkenntnis auch aus Stille, Abwarten und Lauschen erwächst.
Sie erinnert daran, dass Wissen nicht nur im Tun liegt, sondern auch im Nicht-Wissen, im Geheimnisvollen. Die Karte ruft dazu auf, den inneren Raum zu achten und die Polaritäten des Lebens nicht vorschnell aufzulösen.