Das klassische Tarot besteht aus 78 Karten: den 22 Trümpfen der Großen Arkana und den 56 Farbkarten der Kleinen Arkana. Beide zusammen bilden ein einziges, vielschichtiges Bildsystem: Die Große Arkana erzählt die großen Wendepunkte – Geburt, Entscheidung, Krise, Erneuerung –, die Kleine Arkana bringt diese Kräfte in den Alltag: Arbeit, Gefühle, Gedanken, Körper und Beziehung.
Das weithin bekannte „Rider-Waite“-Deck (präziser: Smith-Waite, denn die Künstlerin Pamela Colman Smith prägte das Bildgedächtnis dieses Tarots entscheidend) erschien 1909. Arthur Edward Waite konzipierte die Reihe, verankerte sie in der okkulten Symboltradition seiner Zeit und gab insbesondere für die Große Arkana präzise Anweisungen. Pamela Colman Smith setzte dies eigenständig bildnerisch um – und bekam bei der Kleinen Arkana außergewöhnlich viel künstlerische Freiheit. Dass heute weltweit mehr Menschen Tarot „lesen“ statt bloß zählen (Pip-Karten), verdanken wir vor allem ihr: Das Smith-Waite war das erste große Deck mit vollständig illustrierter Kleiner Arkana.
Die Große Arkana – Archetypen und Wegmarken
Bildbeschau. Die 22 Trumpfkarten (0–XXI) greifen eine symbolische Grammatik auf, die seit dem 15. Jahrhundert (Visconti, später Marseille) gewachsen ist und im Smith-Waite ikonisch gebündelt wurde: der Narr als Nullpunkt; Magier/Hohepriesterin als geistige Eltern; Herrscherin/Herrscher als irdische Matrix; Hierophant als Hüter der Tradition; Liebende als Entscheidung; Wagen als Aufbruch; Kraft, Eremit, Rad, Gerechtigkeit, Gehängter, Tod … bis hin zu Welt als Vollendung. Jede Karte ist ein Knoten aus Farbe, Geste, Attributen (Rose, Lemniskate, Säulen, Krone, Sternenkranz), der eine präzise Bildlogik entfaltet.
Kontextualisierung. Waite zielte auf eine esoterisch kohärente Sequenz. Auffällig ist z. B. die Umsortierung von Kraft (VIII) und Gerechtigkeit (XI) gegenüber Marseille: Sie spiegelt Waites Theologie von innerer Balance (8) und äußerm/karmischem Ausgleich (11). Pamela Colman Smiths Illustration übersetzt diese Ideen ohne dogmatischen Ton: poetisch, erzählerisch, menschennah.
Schlüsselbegriffe.
- Große Arkana = Archetypen: kollektive Bilder, die Biografie und Mythos verbinden.
- Sequenz = Heldenreise: Aufbruch – Prüfung – Wandlung – Rückkehr.
- Bildsprache = Initiation: Sehen lernen heißt deuten lernen.
Die Kleine Arkana – Alltag, Szenen und die vier Kräfte
Bildbeschau. Die Kleine Arkana besteht aus vier Farben mit je 14 Karten: Stäbe, Kelche, Schwerter, Münzen – jeweils Ass bis Zehn plus Bube, Ritter, Königin, König. Der radikale Schritt des Smith-Waite: jede Zahlkarte zeigt eine Szene – etwa die Drei der Schwerter (Herz, von drei Klingen durchbohrt) oder die Acht der Kelche (eine Gestalt wendet sich von aufgestapelten Bechern ab). Damit wird das „Zählen“ (wie im Marseille-System) zum Lesen: Handlung, Mimik, Landschaft, Wetter – alles trägt Bedeutung.
Kontextualisierung. Historisch war die Kleine Arkana in vielen Decks unbebildert (Pip-Karten). Erst Pamela Colman Smith machte sie zum visuellen Erzählraum. Waite steuerte die übergeordnete Symbolmatrix bei, doch in diesen Alltagsszenen hören wir vor allem Smiths Stimme: theatral geschult, intuitiv, mit sicherem Gespür für emotionale Dramaturgie.
Schlüsselbegriffe.
- Kleine Arkana = Alltagskräfte: Handeln, Fühlen, Denken, Materie.
- Hofkarten = Rollenspiele: Temperamente, Haltungen, Reifegrade.
- Zahlkarten = Prozesse: vom Ass (Impuls) bis zur Zehn (Erfüllung/Überladung).
Elemente und Zuordnungen – die Grammatik der vier Farben
Die vier Farben der Kleinen Arkana korrespondieren mit den vier Elementen – eine Grundachse, die Alchemie, Astrologie und Ritualmagie verbindet. Im Smith-Waite (Golden-Dawn-Linie) gilt die heute verbreitete Matrix:
- Stäbe = Feuer → Energie, Wille, Kreativität, Initiative.
- Kelche = Wasser → Gefühl, Intuition, Hingabe, Heilung.
- Schwerter = Luft → Intellekt, Sprache, Entscheidung, Konflikt.
- Münzen (Pentakel) = Erde → Körper, Arbeit, Ressourcen, Stabilität.
Wichtiger historischer Hinweis (Korrektur/Ergänzung):
In Teilen der älteren französischen Okkulttradition (19. Jh.) findet sich eine abweichende Matrix, in der Schwerter = Erde und Münzen = Luft gesetzt wurden. Waite (bzw. seine Golden-Dawn-Schule) tauschte diese Zuordnungen und standardisierte die heute gängige Lesart Schwerter = Luft und Münzen = Erde. Für die Praxis heißt das: Wer mit historischen Systemen arbeitet, sollte die eigene Matrix bewusst wählen – und sie konsequent verwenden.
Schlüsselbegriffe.
- Elemente = Vokale der Kleinen Arkana: Sie färben jede Szene.
- Konsistenz schlägt Absolutheit: Wichtig ist Stimmigkeit in sich, nicht „die eine Wahrheit“.
- Elemente sind Werkzeuge, keine Dogmen.
Wer „macht“ das Deck? – Waite & Smith im Zusammenspiel
Bildbeschau. In der Großen Arkana erkennen wir Wates Programm: präzise Symbolik, kabbalistische und hermetische Bezüge, bewusst gesetzte Umstellungen (VIII ↔ XI). In der Kleinen Arkana hören wir Smiths Bildsprache: Körperhaltung, Blickrichtung, Gestik, Rhythmus der Landschaft – inszenierte Szenen statt abstrakter Anzahlen.
Kontextualisierung. Der Verlagsname „Rider“ setzte sich in der populären Bezeichnung „Rider-Waite“ durch. Fachlich sinnvoll ist die Betonung „Smith-Waite“: Ohne Smiths vollständig illustrierte Kleine Arkana wäre das Deck nicht zum modernen Standard geworden. Dass heute so viele Anfängerinnen und Anfänger Zugang finden, liegt an dieser Erzählbarkeit.
Schlüsselbegriffe.
- Waite = Architektur, Smith = Inszenierung.
- Große Arkana = Anweisung & Programm, Kleine Arkana = künstlerische Intuition.
- Ergebnis = gemeinsames Werk, bei dem die Kleine Arkana unverkennbar Smiths Handschrift trägt.
Häufige Missverständnisse – kurz & klar
- „Pip-Karten sind neutraler/klassischer.“ – Stimmt historisch, aber neutral heißt nicht besser. Das Smith-Waite erweitert das Repertoire um gefühlte Szenen – für viele Leserinnen/Leser der Schlüssel zum intuitiven Zugang.
- „Elemente sind fix.“ – Nein. Es gibt Traditionsstränge mit abweichenden Matrizen (etwa Schwerter=Erde/Münzen=Luft). Entscheidend ist Kohärenz: Mische nicht unbewusst, definiere dein System.
- „Die Große Arkana ist wichtiger.“ – Sie ist lauter. Doch die Kleine Arkana zeigt, wie Archetypen sich im Alltag verhalten. Für präzise Legungen braucht es beide.
Zusammenfassung
Die Stärke des Smith-Waite-Tarots liegt in der Synergie:
- Die Große Arkana liefert den mythischen Rahmen – eine Folge archetypischer Wandlungen, die wir als Heldenreise lesen können.
- Die Kleine Arkana übersetzt diese Kräfte in menschliche Szenen – greifbar, erzählbar, nuanciert.
Historisch entscheidend: Waite entwarf die symbolische Architektur (insbesondere der Großen Arkana) und ordnete in der Kleinen Arkana die Elemente nach Golden-Dawn-Art (Schwerter = Luft, Münzen = Erde). Teile der französischen Okkulttradition kannten zuvor die Variante Schwerter = Erde, Münzen = Luft – eine Erinnerung daran, dass Tarot ein lebendiges System ist. Die künstlerische Revolution des Decks aber verdanken wir Pamela Colman Smith: Ihre vollständig illustrierte Kleine Arkana öffnete das Lesen für Intuition, Körper- und Raumgefühl – für Bedeutung im Bild.
Im nächsten Beitrag vertiefen wir die Farbgestaltung der Kleinen Arkana: Wie nutzt Smith Farbrhythmen und Kontraste, um Elemente nicht nur zuzuordnen, sondern sichtbar fühlbar zu machen?